Exponentielles Wachstum und mögliche Gegenmassnahmen

Exponentielles Wachstum. Wie kann sich das Corona-Virus so schnell ausbreiten? Man schätzt, dass jede infizierte Person im Durchschnitt etwa zwei bis drei weitere Personen infiziert. Wie wächst dann die Zahl der Neuinfektionen mit der Zeit? Die erste Person infiziert drei weitere. Zusammen infizieren diese drei Personen neun weitere Personen. Diese neun wiederum infizieren dann 27 neue Personen. Was beobachten wir? Die Zunahme der Fälle wird mit der Zeit immer schneller! Im ersten Schritt ist es ein Anstieg um zwei Personen zu beobachten. Im nächsten Schritt sind es bereits sechs und dann 18. Zahlen, die auf diese Weise wachsen, folgen einem exponentiellen Wachstum. Wenn wir nur 16 Infektionsschritte vorwärts gehen, sind mehr als 60 Millionen Menschen betroffen. Die Ausbreitung des Virus wird sich zwar verlangsamen, sobald ein Großteil der Bevölkerung betroffen ist, aber wir wollen, dass dies viel früher geschieht, nämlich dann, wenn unser Gesundheitssystem noch nicht überlastet ist. Auch Daten zeigen, dass die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung zu Beginn sehr gut durch ein exponentielles Wachstum beschrieben wird. Dies zeigt die folgende Abbildung für Italien und für Deutschland.

Image

Eine neue Perspektive bringt Klarheit. Die Abbildung sieht beängstigend aus. Allerdings gibt es bei dieser Darstellung Probleme. So ist es beispielsweise nicht einfach, die Verbreitung des Virus in verschiedenen Ländern zu vergleichen. Außerdem ist nicht leicht zu erkennen, wann sich die durchschnittliche Anzahl der Menschen, die jeder infiziert, im Laufe der Zeit verändert - und das ist eine wichtige Information, um die ergriffenen Maßnahmen zu beurteilen. All dies lässt sich viel leichter erkennen, wenn wir nicht die Zahl der infizierten Patienten zählen, sondern die Zeit, die es dauert, bis ihre Zahl mit dem Faktor 10 multipliziert wird – daher sind die Fallzahlen in der nächsten Abbildung auf einer so genannten logarithmischen Skala gezeigt. Ohne irgendwelche Maßnahmen erhöht sich die Zahl der Patienten in der gleichen Zeit immer um den Faktor 10. Die Fallzahl wächst also in dieser Darstellung linear.

Image

Wir sehen nun eine fast gerade Linie für Deutschland und eine leicht gekrümmte für Italien, die zeitweise fast parallel verlaufen: Das Virus breitet sich in beiden Ländern ungefähr gleich schnell aus, aber Italien ist etwa 10 Tage voraus. Wenn es uns gelingt, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, d.h. die Zahl der Menschen zu reduzieren, die ein infizierter Patient infiziert, wird die Gerade gekrümmt - wie im Falle Italiens. Dies kann durch „social distancing“ erreicht werden: Wenn wir nur sehr wenige Menschen treffen, können wir nur sehr wenige Menschen infizieren.

Exponentielles Wachstum vs. lineare Gegenmaßnahmen. Warum müssen wir dies erreichen? Im Gegensatz zum Virus kann die Kapazität unseres Gesundheitssystems nicht exponentiell wachsen (Intensivbetten und medizinisches Personal vermehren sich nicht wie Viren oder Bakterien). Selbst wenn wir jeden Monat, jede Woche oder jeden Tag 5000 neue Intensivbetten mit Beatmung bereitstellen können - und daran müssen wir arbeiten -, kann ein solcher Anstieg nicht mit dem exponentiellen Wachstum Schritt halten.

Image

Wir wollen unser Gesundheitssystem nicht überlasten und dadurch viele zusätzliche Todesfälle vermeiden - auch solche, die durch andere Krankheiten verursacht werden, die unter normalen Umständen nicht wirklich lebensbedrohlich wären. Um dies zu erreichen, müssen wir nicht nur die Zahl der Fälle reduzieren, sondern vor allem auch die Zunahme der Fälle. Dies ist durch „social distancing“ möglich. Verschiedene Länder haben unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um dieses Ziel zu erreichen. Südkorea zum Beispiel hat es durch intensive Personenverfolgung und Tests geschafft, die Gesamtzahl der Fälle zu stabilisieren, um dem Gesundheitssystem eine Chance zu geben - und schließlich werden viele Patienten wieder gesund. Der Anstieg der Zahl der Infizierten in Südkorea ist jetzt drastisch zurückgegangen, und ihre Gesamtzahl steigt nicht mehr exponentiell an.

Image

Selbst wenn die wirtschaftlichen Opfer hoch sind und die Einschränkungen bedrohlich erscheinen, werden wir das Ziel durch strikte Einhaltung des „social distancing“ erreichen können.

Prof. Dr. Arne Traulsen, Dr. Hildegard Uecker, Dr. Silvia De Monte, Dr. Chaitanya S. Gokhale, Dr. Yuriy Pichugin, Dr. Florence Bansept, Dr. Christian Hilbe, Dr. Michael Raatz, Dr. Maria Bargués i Ribera, Yuanxiao Gao, Dr. Stefano Giaimo, Roman Zapien-Campos, Mario Santer
(von Arne Traulsen ins Deutsche übertragen)
(Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, die sich auf mathematische Modellierung spezialisiert haben)