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Das soziale Dilemma des „Social Distancing“

 

Unser tägliches Leben hat sich innerhalb weniger Wochen drastisch verändert. Das öffentliche Leben hat sich auf ein Minimum reduziert, und die meisten Geschäfte sind geschlossen. Um eine weitere Verbreitung des Corona-Virus zu vermeiden, sind wir angewiesen, uns zu isolieren und sogar direkte Kontakte zu Verwandten und Freunden zu vermeiden. Die Konsequenzen sind von Mensch zu Mensch verschieden – soziale Isolation, fehlende Kinderbetreuung oder gar der Verlust des Arbeitsplatzes. In der einen oder anderen Form müssen wir alle Opfer bringen.

 

Soziales Dilemma. Evolutionsbiologen und Sozialwissenschaftler nennen so eine Situation ein soziales Dilemma. In einem sozialen Dilemma müssen Menschen kooperieren obwohl jeder Einzelne einen Anreiz hat, nicht mitzumachen. Solche sozialen Dilemmas gibt es häufig, auch ohne eine globale Epidemie. Sie beeinflussen Unternehmen, die auf effiziente Teamarbeit angewiesen sind, genauso wie Nationalstaaten, wenn es darum geht, den Klimawandel zu stoppen. In der momentanen Krise wird es jedoch noch einmal besonders deutlich, welche Spannungen ein soziales Dilemma hervorrufen kann.

 

Soziale Dilemmas als Spiel. Um zu untersuchen wie sich Menschen in sozialen Dilemmas verhalten, haben Forscher ein einfaches Experiment entwickelt. Dazu nehmen die Teilnehmer an einem Spiel teil, das „öffentliche Güter Spiel“ (public goods game) genannt wird. Während dieses Spiel mit beliebig vielen Teilnehmern gespielt werden kann, betrachten wir zunächst eine Gruppe von vier Spielern. Am Beginn des Experiments bekommt jeder Spieler ein Startkapital, zum Beispiel zehn Euro. Jeder Spieler muss dann für sich entscheiden, wie viel er von diesem Startkapital in einen öffentlichen Topf einzahlt. Laut den Regeln des Spiels werden alle Einzahlungen in den Topf vom Experimentator verdoppelt. Die Gesamtsumme wird dann gleichmäßig auf alle vier Spieler aufgeteilt, unabhängig davon wieviel der jeweilige Spieler eingezahlt hat. Aus Sicht der Gruppe sollte bei so einem Spiel jeder sein ganzes Startkapital in den gemeinsamen Topf einzahlen, denn in diesem Fall würde jeder Spieler mit dem doppelten Betrag aussteigen und zwanzig Euro verdienen, anstatt der ursprünglichen zehn. Leider stellt sich das Spiel aus individueller Sicht jedoch ganz anders dar. Als einzelner Spieler kann man nämlich mehr verdienen, wenn man selber gar nichts zum öffentlichen Topf beiträgt. In dem Fall kann man bis zu 25 Euro verdienen (die 10 Euro vom Startkapital plus 15 Euro vom öffentlichen Topf, wie in der unteren Abbildung dargestellt). Wenn jeder dieser Logik folgt, gibt es jedoch gar keine Beiträge mehr zum öffentlichen Topf. Spieltheoretiker sprechen dann von Kooperation als dominierter Strategie; sie würden erwarten dass langfristig jegliche Kooperation verschwindet.

 

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Abbildung: Das „öffentliche Güter“ Spiel besteht aus vier Schritten. Im ersten Schritt erhält jeder Spieler ein Startkapital. Im zweiten Schritt muss dann jeder Spieler entscheiden wie viel er von seinem Startkapital zu einem öffentlichen Gut beitragen will. In diesem Beispiel geben alle blauen Spieler ihr gesamtes Startkapital, während der rote Spieler gar nichts beiträgt. Alle Beiträge zum öffentlichen Gut werden in Schritt 3 verdoppelt. Im letzten Schritt wird dann die Gesamtsumme wieder auf alle Spieler gleichmäßig verteilt.

Menschliches Verhalten in sozialen Dilemmas. Aber wie würden nun normale Menschen dieses Spiel angehen? Die Antwort hängt davon ab, wie das Spiel genau durchgeführt wird und welche Parameter gewählt werden. Eine Vielzahl an Experimenten zeigen die folgenden Regelmäßigkeiten:

  1. Die Teilnehmer sind umso kooperativer desto effektiver ihre Beiträge für das Gemeinwohl sind. Im obigen Spiel könnte das zum Beispiel dadurch erreicht werden, dass sich die gesammelten Beiträge verdreifachen statt zu verdoppeln.
  2. Teilnehmer tragen mehr zum öffentlichen Gut bei, wenn das Spiel innerhalb derselben Gruppe wiederholt wird. In einem solchen Spiel über mehrere Runden haben die Teilnehmer einen stärkeren Anreiz, ihre Mitspieler bei der Stange zu halten. Ein Spieler, der heute nicht kooperiert, riskiert, dass seine Mitspieler in der nächsten Runde auch nicht kooperieren. Speziell in kleinen Gruppen reicht dieser sanfte Druck oft schon aus, um die Teilnehmer zum Kooperieren zu bringen.
  3. Selbst in wiederholten Spielen nimmt die Kooperation ab, wenn die Gruppegröße steigt. Große Gruppen führen schnell zu einer „Diffusion der Verantwortung“ – sich um das öffentliche Gut zu kümmern wird dann zu einem Problem, um das sich andere kümmern sollen.

 

Mechanismen für Kooperation. Die obigen Regelmäßigkeiten können eher pessimistisch stimmen, wenn es um ein öffentliches Gut geht, das mehrere Millionen Menschen betrifft. Glücklicherweise gibt es umfangreiche Forschung dazu, welche Mechanismen Kooperation fördern können. Ein solcher Mechanismus ist die Bevölkerungsstruktur. Wir interagieren ja nicht mit den Millionen an Menschen, die vom Virus bedroht werden – wir treffen uns nur mit der viel kleineren Gruppe unserer Freunde, Arbeitskollegen, und Familienmitglieder. Diese Netzwerkstruktur reduziert nicht nur die Geschwindigkeit, mit der sich der Virus verbreitet. Einschlägige Forschung zeigt auch, dass solche Strukturen Kooperation erhöhen, da sich aus der Sicht jedes Einzelnen die effektive Gruppengröße verringert.

 

Ein zusätzlicher Mechanismus, um Menschen zu Kooperation anzuhalten besteht darin, diejenigen zu bestrafen, die sich nicht an die gemeinsamen Regeln halten. Die Forschung unterscheidet hierbei zwei Arten von Bestrafung, abhängig davon wer die Bestrafung durchführt. Manche Normen werden am effektivsten durch „Peer Punishment“ aufrecht erhalten. In diesem Fall sorgen die einzelnen Bevölkerungsmitglieder selber dafür, dass sich jeder an die Regeln hält – zum Beispiel dadurch, dass sie Regelbrecher zur Rede stellen. Verhaltensexperimente zeigen, dass die bloße Möglichkeit einer Bestrafung zu mehr Kooperation führt und dass dann oft gar nicht mehr bestraft werden muss. Folgeexperimente haben jedoch auch gezeigt, dass der Erfolg von Peer Punishment von den jeweiligen kulturellen Normen einer Gesellschaft abhängt. Wenn Sanktionen nicht auf verantwortungsbewusste Weise erfolgen, kann Peer Punishment schnell zu ausufernden Kleinkriegen führen. In der derzeitigen Krise führt Peer Punishment auch zu einer Feindlichkeit gegenüber Fremden und Zugereisten. Nicht zuletzt hat diese Form von Disziplinierung in Ländern wie Deutschland einen schalen Beigeschmack, weil es an frühere Einrichtungen erinnert, die zur Denunzierung Andersdenkender missbraucht wurden (man denke hier an den „Blockwart“ oder den „Abschnittsbevollmächtigten“).

 

Stattdessen kann man das Bestrafen auch zentralen Stellen überlassen, wie der Polizei oder der Exekutive ganz allgemein. Interessanterweise stellen diese Institutionen selbst ein öffentliches Gut dar. Sie nützen der Gesellschaft, aber sie benötigen individuelle Beiträge in Form von Steuern. Speziell in Krisen wie dieser zeigen diese Institutionen deutlich ihren Wert. Sie helfen nicht nur dabei, allgemeine Regeln durchzusetzen. Es braucht sie auch um eine Übereinstimmung darüber zu erreichen, welche Regeln überhaupt von nun an gelten sollen. Der folgende Leitspruch der US Finanzbehörde kommt daher nicht von ungefähr: „Steuern sind der Preis, den wir zahlen, um in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben“ („Taxes is what we pay for a civilized society“). 

 

Während uns zentrale Institutionen dabei helfen, die öffentliche Ordnung zu bewahren, müssen wir darauf achten dass diese Institutionen nicht überlastet werden. Gerade in dieser Zeit sollten wir alle unserer sozialen Verantwortung gerecht werden, um das öffentliche Gut der allgemeinen Gesundheit zu bewahren. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, indem wir uns an die Social Distancing Maßnahmen halten und denjenigen helfen, die unsere Hilfe benötigen. Diese Maßnahmen sind natürlich ein enormer Eingriff in unsere gewohnten Freiheiten. Aber das „öffentliche Güter Spiel“, an dem wir im Moment alle teilnehmen, ist zu wichtig, um es zu verlieren. 

 

Dr. Christian Hilbe und Prof. Dr. Arne Traulsen

(Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, die sich auf mathematische Modellierung spezialisiert haben)